Wieso denn das? Gegenspieler der Seilkraft ist die Auftriebskraft, nicht das Gewicht...
Naja, die Begründung habe ich versucht mittels des Besenstiel-Fliegers darzulegen. Aber gut, zweiter Versuch:
Zunächst: Meine Aussage war nicht: Angabe in Grad ist falsch. Sondern: Angabe in Grad funktioniert nicht. Sie ist unpraktisch.
Beispiel 1: In der Zeichnung des hier diskutierten Eintrags wird so getan, als ob Auftriebskraft/Schwerpunkt bezogen auf die Hochrichtung in der Flügelwurzel angreifen würden. Das mag beim Grunau Baby mit etwa 0° V-Form zutreffen. Bei einem alten 70er Jahre Graupner Cirrus mit 2x 7° V-Form dürfte die mittlere Auftriebskraft in Spannweitenrichtung irgendwo mitte Flügel und damit in der Hochrichtung deutlich höher als die Wurzel angreifen. Stell Dir vor, Du würdest in der Seitenansicht des Cirrus-Rumpfes 20° von der Flügelwurzel abtragen. Und dann stell Dir vor, dass der Auftriebsmittelpunkt wegen der ausgeprägten V-Form mindestens eine Hand breit höher liegt. Von Deinen 20° bleiben dann nur noch vielleicht 5° übrig. Also: Sobald eine V-Form vorhanden ist, fehlt einem der Bezugspunkt, von dem aus man irgend einen Winkel abtragen könnte.
Beispiel 2: Bei einem hohen Rumpf wie beim Grunau Baby führt die Angabe 10°-30° wegen der großen Höhe zu einem großen zulässigen Bereich von beispielsweise 10 cm, innerhalb dessen ich meinen Hochstarthaken positionieren kann. Bei gleichem Flügel/Leitwerk, aber nun mit Besenstil-Rumpf würde die gleiche Angabe 10°-30° wegen der praktisch nicht vorhandenen Bauhöhe zu einem Bereich führen, der vielleicht nur noch 5 mm umfasst. Das ist definitiv zu wenig und eine unnötige Einschränkung. Tatsächlich sagt mir die Flugmechanik dass ich sehr viel mehr Spielraum für die Hakenposition habe, auch wenn ich dadurch beim Besenstielrumpf die Empfehlung 10°-30° deutlich verlasse.
Heißt unterm Strich: Mit der Angabe 10°-30° vor dem Schwerpunkt macht man nichts falsch, sofern man sie denn überhaupt am Flugzeug auffinden kann. Die Hakenposition liegt damit vor dem Schwerpunkt und sicher vor dem Neutralpunkt. Der Flieger hängt stabil am Seil. Das schlimmste, was einem passieren kann, ist überstabiler Trimm auf der schnellen Seite, den man dann mit reichlich Höhenruder wegziehen muss.
Aber ansonsten ist diese Winkelangabe eher nichtssagend, weil man erstens keinen verlässlichen Bezugspunkt für den Winkel hat (wo willst Du den Winkel ansetzen bei einem RES-Flieger mit praktisch keiner Rumpfhöhe und mehrfach gewinkeltem Flügel?), und weil man sich zweitens unnötigen Einschränkungen unterwirft, denn bei schlanken Rümpfen sind deutliche Abweichungen vom empfohlenen Winkelbereich möglich und sogar erwünscht.
Wenn man aber verinnerlicht hat, dass 1. es eigentlich nur auf die Hakenposition relativ zum Neutralpunkt ankommt, und dass 2. der Schwerpunkt außerdem vor dem Neutralpunkt liegt (liegen sollte), wird alles viel einfacher: Jede Hakenposition im Bereich des Schwerpunktes funktioniert, weil sie ebenso wie der Schwerpunkt in einem zulässigen Maß vor dem Neutralpunkt liegt. Die vorsichtigen, konservativen Zeitgenossen wählen eine Hakenposition etwas vor dem Schwerpunkt, womit der Flieger am Seil stabiler fliegt als im freien Flug. Möglicherweise (aber nicht notwendigerweise) liegt diese Position dann auch im genannten Winkelbereich, aber das ist dann nur ein Nebeneffekt. Die experimentierfreudigeren Kollegen trauen sich auch an eine Hakenposition geringfügig hinter dem Schwerpunkt (aber nur soweit dahinter, dass der Haken immer noch vor dem Neutralpunkt liegt), mit dem Ergebnis, dass der Flieger am Seil weniger Stabilität in Nickrichtung hat als im freien Flug. Wenn man es denn mag. Mehr ist eigentlich an Überlegung nicht erforderlich.
Stefan