Ein Dachbodenfund und seine Geschichte, Teil 1 - Der Flieger von Bolanden

Ein Dachbodenfund und seine Geschichte

Teil 1: Der Flieger von Bolanden

Artikel aus FlugModell 03/16

Manfred Boog

Die Redaktion erhielt ein 70 Jahre altes Foto mit der Bitte um eine Stellungnahme. Es zeigt einen jungen Mann mit einem Flugmodell, einem „Oldie“. Ein Fall für unseren Experten der Modellfluggeschichte: Manfred Boog. Aber dass sich daraus ein Blick ganz weit zurück in die Modellflugvergangenheit ergeben würde, hätten wir in unseren kühnsten Träumen nicht erwartet!
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Günter Merz, ein Modellflieger aus Worms, hatte das Bild geschickt. Er schrieb: „Anbei finden Sie das Bild eines Flugmodells, gefunden auf einem Speicher, der zirka 70 Jahre lang nicht betreten wurde. Leider ist das Bild durch die Wärme etwas wellig geworden. Der junge Mann auf dem Foto taucht in unserer Ahnenforschung nicht auf. Das Modell ist mir auch unbekannt …
Von Interesse könnte sein: Das Bild wurde in Immesheim (200 Einwohner, geschätzt) im Landkreis Kirchheimbolanden gefunden. Im gleichen Landkreis, 12 km entfernt, liegt Bolanden. Dort soll es Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts, einen Flugzeugkonstrukteur gegeben haben. Leider gibt es sehr wenig Informationen darüber.“

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Günter Merz, seit 55 Jahren Modellsportler, fragte FlugModell: „Ist das Bild für Sie interessant und irgendwie verwertbar?“​

Dunkler Schatten

Ich hatte in der Vergangenheit für FlugModell eine Serie über die Modellfluggeschichte geschrieben, und so landeten Foto und Mail bei mir. Leider begann diese Geschichte mit einem tragischen Ereignis. Während einiger Gespräche mit Herrn Merz hatte ich ihn als einen liebenswerten, freundlichen und fachlich kompetenten Modellflieger kennengelernt. Er war ein langjähriges Mitglied der „Wormser Stare“. Herr Merz schickte mir das Foto samt Rahmen einen Tag bevor er wegen einer OP ins Krankenhaus musste. Auf meine Mail mit der ersten Erfolgsmeldung bekam ich erst spät eine Antwort – darin teilte mir seine Tochter mit, dass ihr Vater kurz nach der Operation gestorben sei. Für mich und meine Nachforschungen war das ein dunkler Schatten.
Auf dem Bild schaut uns ein junger Mann an, ruhig, gelassen, anscheinend ohne große Emotionen wie Stolz oder Freude. Was denkt er? Was ist das für ein Mensch? Vor ihm steht ein Flugmodell. Er präsentiert es auf einem kleinen Tisch, den er nach draußen vor das Haus gestellt und mit einer Decke abgedeckt hat. Auch da drängen sich Fragen auf: Was ist das für ein Flieger? Aus welcher Epoche könnte er stammen? Handelt es sich um ein Spitzenmodell von besonderer Qualität? Oder ist es nur Durchschnitt, etwas für gelegentliche Freude im Alltag?


Erste Begutachtung

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Das Bild habe ich auf eine Glasscheibe gelegt und von hinten beleuchtet. Darauf spannte
ich einen weißen Papierbogen und konnte so den Mann und das Flugmodell getrennt hochzeichnen.

Ich teilte das Foto auf und holte per Zeichnung einmal das Modell und dann auch den Modellbauer heraus, um beides getrennt und ohne gegenseitige Beeinflussung begutachten zu können. Als ich mir den jungen Mann immer wieder anschaute, wie er selbstsicher und diszipliniert im Bilde stand, fielen mir mehrere Geschichten aus der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ein. Viele der jungen Flieger der Kriegsjahre 1914 bis 1918 begannen ihre Laufbahn als Modellsportler. Wahrscheinlich wurden sie von den Begeisterungswellen beim Kriegsausbruch mitgerissen und meldeten sich freiwillig zu den Fliegertruppen, wo sie in der Zeit von 1914 bis 1918 harte Jahre mit Entbehrungen, Verwundungen oder gar der Tod erwarteten. Die Überlebenden standen 1918 nach dem verlorenen Krieg mit leeren Händen da. Die Siegermächte hatten den Deutschen den Motorflug verboten, und damit waren den Männern der Fliegertruppen buchstäblich „die Flügel beschnitten“ worden. Ihre Flugbegeisterung jedoch war ungebrochen – sie wichen auf den Modellflug aus und bauten Freiflugmodelle, von deren Flugeigenschaften wir heute nur noch träumen können. Zahlreiche ehemalige Weltkriegs-Flugzeugführer wechselten später zum Gleit- und Segelflug. Sie wurden anfangs die Pioniere und später die Väter der weltweiten, von Deutschland ausgehenden Segelflug-Bewegung. Tief in ihrem Inneren blieben aber viele von ihnen engagierte Modellflieger. Man findet deren Namen auch dann noch in den Siegerlisten von Modellflug-Wettbewerben, als viele schon lange zu den Berühmtheiten im Segelflug zählten. Sollte der junge, sportlich-straffe Mann auf dem Bild, das Günter Merz uns geschickt hatte, nicht auch einer von diesen immer noch flugbegeisterten ehemaligen Soldaten der Fliegertruppen von 1914–1918 gewesen sein? Auch er schien sich nach wie vor mit Enthusiasmus dem Modellflug verschrieben zu haben. Mein Tipp: Ein Foto aus dem Zeitraum um 1920. Das war jene Zeit, in der sich der Modellflug und die Luftfahrt – wie später nie wieder – so richtig nahe gekommen waren.

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Der „Flieger“ war ein Gummimotormodell mit einer großen, geschwungenen Tragfläche – wie die einer „Taube“. Als Rumpf und Leitwerksträger diente ein kräftiger Stab mit einem Gummistrang über die gesamte Länge. Vorne befanden sich ein großer Propeller und ein weit vorgezogenes Fahrwerk mit Speichenrädern, wahrscheinlich aus Sperrholz ausgesägt.
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Die „Tauben“ hatten größere Seitenleitwerke, ja sogar Doppelleitwerke. Es sollte sich herausstellen, dass meine anfängliche Einschätzung, um was für eine Art Flugzeug es sich hier handeln könnte, fehlerhaft war.
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Hier das zu kleine Seitenleitwerk des Modells auf dem Foto von Herrn Merz. Ein solches war, wie sich später herausstellte, typisch für die „Drachenflugzeuge“. Deren Leitwerke waren klein oder sie fehlten sogar gänzlich.

Falsche Fährte

Man sollte sich bekanntlich davor hüten, Dinge mit einer vorgefassten Meinung zu untersuchen und zu beurteilen. Das sind Fehler, die uns gelegentlich unterlaufen. So dachte ich anfangs, der junge Mann auf dem Bild hätte sich beim Bau seines Modells für das Konzept einer „Taube“ entschlossen – die weitspannende, elegante Fläche mit einer leichten Schränkung schien darauf hinzudeuten. Der Rumpf allerdings glich eigentlich nicht dem Rumpfmodell einer Taube. Dies hätte – wie beim Original – ein Hohlkörper sein müssen, in dessen Inneren verborgen die Gummistränge aufgehängt waren. Stattdessen hatte sich der Erbauer für ein Stabmodell mit Gummimotor entschieden. Na ja, dieses Abweichen vom Original habe ich ihm verziehen. Hatte diese Taube schon nicht den vorbildähnlichen Gitterrumpf, so hätte ich aber bei dem relativ kleinen Seitenleitwerk stutzig werden müssen. Das war einfach nicht groß genug für die gängigen Freiflugmodelle der 1920er-Jahre. Diese waren für Streckenflüge ausgelegt und sollten nach einem Bodenstart möglichst große Weiten in gerader Linie zurückzulegen. Bekanntlich sind die Drehmomente von Gummimotoren in allen Flugphasen unterschiedlich. Beim Start wirken enorme Seitenzugkräfte auf das Modell, die dann aber zunehmend schwächer werden. Diese sich wandelnden Momente sind Gift für eine ungetrübte Längsstabilität. Bei dem maßstabgetreuen Nachbau einer Taube hätte das Leitwerk mindestens dreimal so groß sein müssen. Das war nämlich eines der stabilisierenden Elemente dieser Flugzeuge. Ich ging jedoch davon aus, dass unser Modellbauer auf dem Foto – als ehemaliger Flieger – so tüchtig war, dass er auch mit einem sehr kleinen Seitenleitwerk makellose Geradeausflüge erreichen konnte. Warum nicht? Damit stand mein Urteil fest: Das Modell musste eine Nachkriegsschöpfung sein und könnte ebenfalls um das Jahr 1920 datiert werden. Der Besitzer, ein exzellenter Modellbauer und Modellflieger. Dazu ein interessanter Einblick in die Modellflughistorie, gewürzt mit einem bedeutenden Kapitel der deutschen Zeitgeschichte. Eine runde Sache.


Die Rote Karte

Es ist gut, wenn man Ausarbeitungen, bei denen man sich nicht so ganz sicher ist, dem einen oder dem anderen Testleser vorab zur Ansicht gibt. Ich bekam von einigen Leuten Zustimmung, aber Dr. Jürgen Stengele, ein exzellenter Kenner der Luftfahrt- und Modellfluggeschichte, zeigte mir die Rote Karte. „So kannst du das nicht stehen lassen! Schau dir mal die Tragfläche an. Das ist kein Tauben-Flügel, sondern der eines Drachenflugzeugs.“ Jürgen musste das besser wissen als viele von uns, denn er baute und flog jahrelang immer wieder Ur-Oldtimer und war für mehrere Jahre Vizepräsident der Antik-Flieger in Deutschland. Wir diskutierten und analysierten – über Telefon – lange Zeit und kamen dann nach genauer Betrachtung einvernehmlich zu der Auffassung, dass die Tragfläche auf dem Bild nicht die Form eines Taubenflügels hatte, sondern eine durchgehende, einteilige und gebogene Nasenleiste besaß. Und damit muss man das Modell als Drachenflugzeug in eine ganz andere Zeit, nämlich in die Vorkriegsjahre vor 1914 einstufen. Meine Vermutung war falsch. Jürgen hatte mich vollends überzeugt.


Das Drachenflugzeug

Der Drachen ist bekanntlich das erste Fluggerät, das in die Klasse „schwerer als Luft“ gehört. Es erzeugt, im Gegensatz zum statischen Auftrieb der Ballone, mit seiner schräg angestellten Fläche im Wind dynamischen Auftrieb. Ein Phänomen, welches auch gestandene Wissenschaftler interessierte. Alexander Lippisch war einer der bedeutendsten Luftfahrt-Pioniere seiner Zeit. Im Jahre 1917 stieg er zum Aerodynamiker bei Junkers auf. Ein Jahr später, am Ende des Ersten Weltkriegs, wurde er arbeitslos. Er beschäftigte sich, wie viele seiner flugbegeisterten Zeitgenossen, daraufhin gezwungenermaßen mit dem Modellflug. Immer aber als Wissenschaftler im Dienste des Fortschritts. Seit den 1920er-Jahren konstruierte er zahlreiche Nurflügel-Flugzeuge und schuf schließlich das erste Raketenflugzeug der Welt, die Messerschmitt Me 163. Trotz seiner großartigen Karriere in der Luftfahrt blieb er immer praktizierender Modellflieger und ein Lehrer, dem der Nachwuchs sehr am Herzen lag. So schrieb er gemeinsam mit seinem ebenso bekannten und berühmten Freund Fritz Stamer ein dreiteiliges Fachbuch für Jugendliche: „Der Bau von Flugmodellen“. Dort erklärte er, vom einfachen Drachen ausgehend, in leicht verständlicher Form das Prinzip des Drachenflugzeugs. „Die einfachste und bekannteste Drachenform ist der Spitzdrachen“, schreibt er in Band 1 dieser Reihe. „Der Querstab wird kurz hinter der Spitze am Längsstab festgewickelt und mit einer Schnur nach dem Ende des von beiden Spitzen aus verbunden. Die Schnur wird so stramm angespannt, dass der Querstab nach unten gekrümmt ist. Von der Spitze des Längstabes gehen ebenfalls zwei Schnüre an den Querstab, fassen ihn jedoch ganz in der Nähe des Längsstabes. Der Kreuzdrache, dessen Querstab gerade hindurch läuft und nach oben und unten gebunden ist, fliegt lange nicht so gut, weil die Flügel sich nicht richtig wölben können.“ Beobachtet man den Spitzdrachen des Aerodynamikers Lippisch im Flug, dann fällt sofort auf, dass er eine leichte V-Form und kräftig gewölbte Flügelhälften besitzt.

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Fritz Stamer und Alexander Lippisch lernten sich 1921 auf der Wasserkuppe kennen. Im Laufe der Jahre konstruierten sie zahlreiche Segelflugzeuge und waren maßgeblich am Fortschritt des Segelflugs beteiligt. Gemeinsam schrieben sie auch das dreiteilige Fachbuch: „Der Bau von Flugmodellen“

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Im ersten Band erklärt der spätere Professor Lippisch das Prinzip des Drachenflugs: Er zeichnet unterschiedliche Drachenmodelle und beurteilt sie: Links „falsch“, rechts „richtig“.

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Die Zeichnung eines Drachens im Flug verdeutlicht dieses Urteil: Die Bespannung am Längsstab wirkt wie eine Kielflosse und stellt eine stabilisierende V-Form her. Auftrieb entsteht nicht nur durch die von unten angeblasene Drachenfläche, sondern zusätzlich durch Sogkräfte an der Oberseite, über der gewölbten Fläche.​


Damals ließen einige wenige sehr erfahrene Modellsportler an einem langen Bindfaden Drachen aufsteigen, lösten sie, auf Höhe gebracht, von der Leine und ließen sie im Gleitflug zur Erde zurückkehren. Bald bestückte man die Modelle mit Seiten- und Höhenleitwerken. Die Nasenleisten aber hatten nach wie vor die Form eines Tonnenbügels. Im Flug nahm die Bespannung die Form von im Luftstrom gewölbten Tragflächen an. Das Drachenflugzeug war geboren. Jahrzehntelang wurde mit den unterschiedlichsten Flächenformen experimentiert. Die Bedeutung eines leistungsfähigen Seitenruders unterschätzte man aber in den Vorkriegsjahren, was auch bei dem Modell auf dem Foto deutlich wird. Richtungsstabilität versuchte man über V-Formen zu er reichen.


Der erste Flug

Unabhängig von dieser Entwicklung wählten die beiden berühmtesten Modellflugpioniere der frühen Jahre für ihre epochemachenden Flugmodelle die Form des Drachenflugzeugs. Der englische Adelige Sir George Cayley hatte als Erster die aerodynamischen Gesetzmäßigkeiten von Auftrieb, Schwerkraft und Vortrieb und deren Wirkung in einem Punkt, dem Schwerpunkt eines Modells, erkannt. Nach zahlreichen Studien und Experimenten gelang ihm im Jahre 1804 der erste Flug eines eigenstabil fliegenden Modells. Cayley baute immer größere Modelle und soll schließlich seinen Kutscher in so ein Gerät gesetzt haben. „Sie haben mich zum Fahren eingestellt, nicht zum Fliegen!“ Mit diesen Worten soll jener gekündigt haben. Demnach muss wohl Sir Cayleys Kutscher der erste Flug eines Menschen gelungen sein. Alexander Lippisch kannte diese frühen, erfolgreichen Flugmodelle nicht. Seiner Meinung nach führte der Franzose Alphonse Penaud am 18. August 1871 den ersten eigenstabilen Flug der Luftfahrtgeschichte durch. Und zwar mit dem motorisierten Flugmodell „Planophore“, dessen Nasenleiste ebenfalls aus einem Tonnenbügel bestand. Ihm galten die Worte, die man in der Modellflughistorie in goldenen Lettern festhalten sollte: „Die Entwicklungsgeschichte des Flugmodells ist die Geschichte des Flugwesens, und die Erfindung des ersten freifliegenden Modells die Geburtsstunde der Fliegerei.“ Diese beiden herausragenden Konstruktionen waren Drachenflugzeuge.

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Sir George Cayley startete 1804 das erste freifliegende Flugmodell zu seinem erfolgreichen Jungfernflug. Es hatte einen Stabrumpf und eine Tragfläche mit einem Tonnenbügel als Nasenleiste.

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Das Flugmodell „Planophore“ des Franzosen Alphonse Pénaud, ebenfalls ein Drachenflugmodell, war das erste freifliegende, eigenstabile Motorflugmodell der Welt.


Modell mit Gummimotor

Auch das Flugmodell auf unserem Foto ist ein Gummimotormodell. Der Leitwerksträger war, wie bei Penaud, der den Urahnen aller Flugmodelle schuf, ein kräftiger Stab, über dessen ganze Länge der Gummistrang gespannt war. Später baute und flog man auch sogenannte Rumpfmodelle, deren Vorbilder die Rümpfe von Flugzeugen waren. Hier konnten die Stränge des Gummimotors unsichtbar untergebracht werden. Mit dieser Weiterentwicklung näherte man sich Schritt für Schritt dem vorbildähnlichen Flugzeugmodell. Die Hochleistungs- und die Gebrauchsmodelle jedoch hatten durchweg Stabrümpfe. In diese Klasse muss man auch den Flieger auf unserem Foto einstufen. „Ein start- und landungssicheres Fahrgestell muss vorhanden sein“, hieß es in den Bauvorschriften jener Jahre. Gummimotormodelle sollten also in der Regel einen Bodenstart ausführen und auch wieder auf dem Fahrwerk landen können.


Maßstäblich

Unser Modellbauer auf dem Foto hat ein Fahrwerk gebaut nach der Richtlinie: „Das Einfachste ist das Beste“. Ein bogenförmiger Träger mit einer breiten Spur verbindet Rumpf und Räder. Wahrscheinlich ist er etwas profiliert und dadurch biegesteif. Jeder Bogen ist nach hinten abgestrebt. Das ergibt zusammen mit dem Rumpf statisch stabile Dreieckskonstruktionen. Die Räder, wahrscheinlich aus Sperrholz ausgesägt und sauber verschliffen, sind so weit wie möglich nach vorn positioniert, wodurch recht gute Landungen ermöglicht werden. Überschläge oder „Kopfstände" wird es nur in Ausnahmefällen geben haben. Wie groß war das hier vorgestellte Modell? Gehen wir einmal davon aus, dass unser Modellsportler um 1,70 Meter groß gewesen sein könnte. Auf dem mit 144 % vergrößerten Foto beträgt das Maß zwischen Bauchnabel und Scheitel etwa 68 mm. Seine entsprechende Körpergröße, wir machen es uns einfach, beträgt in diesem Bereich 68 cm. Die „10“ ist unser Vergrößerungsfaktor. Demnach ist das auf der Zeichnung 12 cm lange Modell in der Wirklichkeit 120 cm lang. Wenn wir davon ausgehen, dass unser Erbauer sich in etwa an die damals gültigen Regelungen gehalten hat, dann kann man von der Rumpflänge ausgehend auf die Spannweite des Modells kommen. Es gab für Stab-Gummimotormodelle folgende Bauvorschriften: „Stabmodelle mit beliebiger Flächen- oder Propelleranordnung. Gummihakenabstand nicht größer als mittlere Spannweite.“ Wettbewerbsregel: Die Länge des Gummistranges darf nicht größer sein als die mittlere Spannweite der Tragfläche. Der Gummistrang unseres Modells war kürzer als der Rumpf, denn wir müssen das Maß des Leitwerks abziehen. Er könnte demnach 1,1 m lang gewesen sein. Dann muss die Spannweite etwas mehr, vielleicht 1,2 m betragen haben. Wir können also annehmen, dass die Rumpflänge und die Spannweite des auf dem Bilde vorgestellten Flugmodells jeweils um 1,2 m betragen haben muss. Auch der Bilderrahmen kann Aufschluss geben über das Alter dieses Bildes. Er wurde aus vier 1,8 cm dicken Eichenstäben mit Überblattungen zusammengefügt, ist 14,5 cm hoch und 19 cm breit. Man kann ihn an einem Haken aufhängen, ihn aber auch auf einer zusätzlichen Leiste als Bodenplatte aufstellen. Der Historiker Prof. Dr. Meiners ist Leiter des Niedersächsischen Freilicht-Museumsdorfes in Cloppenburg. Ich schickte ihm per E-Mail Abbildungen des gerahmten Bildes. Er sagte, dass in der Zeit zwischen 1860 und 1910 derartige Bilderrahmen hergestellt wurden. Ein weiterer Hinweis für die Datierung des Bildes. Damit ist natürlich nicht das individuelle Alter dieses Rahmens festgelegt, aber das Modell passt in diese Zeit.

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Das Drachenflugmodell auf Hochleistung getrimmt: Eine sehr elegante Fläche mit einem Tonnenbügel als Nasenleiste und einem recht ordentlich dimensionierten Höhenruder, jedoch mit einem winzig kleinen Seitenleitwerk.


Ein Ergebnis

Gehen wir einmal davon aus, dass der junge Mann auch der Besitzer des Modells war. Dann steht vor uns ein Mensch in den besten Jahren seines Lebens, schlank, kraftvoll, ernsthaft, in sich ruhend. Er ist korrekt gekleidet, hat die Arme auf dem Rücken verschränkt. Seine Haltung ist straff, aber das muss nicht zwangsläufig zu der Annahme führen, der Mann sei ein ehemaliger Soldat. Ich hätte als Angehöriger eines „weißen Jahrgangs“ wahrscheinlich die Hände in den Hosentaschen gehabt. Aber darauf hatte Jürgen Stengele ebenfalls eine überzeugende Antwort: Wenn der Foto-Operateur seine Plattenkamera aufgebaut und mit dem Kopf unter dem schwarzen Tuch sein Bild eingestellt hatte, kam das Kommando: „Achtung Aufnahme!“ Dann erstarrte jeder zu einem bewegungslosen Zinnsoldaten – zwangsläufig, wegen der langen Belichtungszeiten.


Weitere Fragen

Ein perfektes, mit einem Gummimotor bestücktes Drachenflugmodell in einer zweckmäßig einfachen, für damalige Zeiten modernen Auslegung. Alles deutet darauf hin, dass dieser Flieger in dem Zeitraum zwischen 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gebaut (und hoffentlich auch geflogen) wurde. Damit konnte die erste Frage, in der es um das Alter des Modells ging, zufriedenstellend beantwortet werden. „Ist das Bild für Sie interessant und irgendwie verwertbar?“ fragte Günter Merz weiter. Ganz bestimmt! Denn dieses Foto ist für die Modellfluggeschichte vergleichbar mit einem „Sechser im Lotto“: Wer hat vor über 100 Jahren schon Flugmodelle gebaut? Wer hat gleichzeitig einen Fotoapparat besessen? Weiter: Wer hat damals ein Flugmodell für so bedeutend angesehen, dass er es fotografierte? Wenn dann so ein Foto, vergrößert und fachmännisch eingerahmt, rund 70 Jahre lang auf einem Dachboden liegt ... endlich entdeckt wird aber nicht in einem Container landet, sondern einem Fachmann in die Hände fällt ... dann ist das eine richtige kleine Sensation. Über das Modell gingen wir auf die Suche, die uns weit zurück in die Vergangenheit der Modellfluggeschichte führte. Ein schöner Erfolg. Aber im Dunklen blieben die Fragen, die sich uns anfangs aufdrängten, als wir uns den Modellflieger ansahen: Was ist das für ein Mensch, der einen Küchentisch vor dem Haus aufgestellt hat, um sein Modell zu präsentieren, der ruhig, gelassen und selbstsicher in die Kamera blickt. Leider kannten wir ihn nicht und konnten auf Anhieb überhaupt nichts über ihn erfahren. Aber da gab es ja noch eine schwache Spur: Günter Merz hatte am Ende seiner Mail angemerkt: „ …von Interesse könnte sein: Das Bild wurde in Immesheim im Landkreis Kirchheimbolanden gefunden. Im gleichen Landkreis, 12 Kilometer entfernt, liegt Bolanden. Dort soll es Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts einen Flugzeugkonstrukteur gegeben haben. Leider gibt es sehr wenige Informationen darüber …“

Wir sind dem nachgegangen und haben uns auf diese Suche gemacht – und das wurde ganz schön spannend. Zu viel versprochen? Warten Sie’s ab, in der nächsten Ausgabe geht es weiter!

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Am Tag bevor unser Leser Günter Merz ins Krankenhaus musste, schickte er mir das Originalbild im Original-Bilderrahmen, auf den ersten Blick ein etwas ungewohnt grobes Objekt.

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Wahlweise konnte das Bild mit einer kräftig dimensionierten Schrauböse aufgehängt oder mit einem an die Unterkante des Rahmens geleimten Brett aufgestellt werden. Die 70 Jahre auf einem Dachboden sind fast spurlos an dem Bilderrahmen vorübergangen.


INFO

Die beliebtesten Nachbauten von Flugzeugen
Der Bleriot-Eindecker XI und die Rumpler Taube (beide von 1908) waren in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die Prototypen zahlreicher Projekte der Modellsportler. Einige zogen die elegant geschwungene Tragfläche der Taube vor, die den Umrissen des legendären Zanonia-Samens entliehen zu sein schien. Andere wählten die gerade und zweckmäßige, rechteckige Fläche des berühmten Bleriot XI, dem erfolgreichen Eindecker, mit dem erstmalig der Ärmelkanal und später auch die Alpen überquert wurden. Mit dem „Lanzpreis der Lüfte“ wollte der Industrielle Hans Lanz dem Flugwesen in Deutschland Auftrieb geben, denn hier tat sich im Gegensatz zu den Nachbarstaaten fast nichts. „Das Luftschiff muss von einem Deutschen konstruiert, in all seinen Teilen in Deutschland hergestellt und von einem Deutschen geflogen werden.“ hieß es. Hans Grade aus Braunschweig erfüllte mit seinem zweiten Flugzeug, einem Eindecker, alle Bedingungen und gewann den „Lanzpreis der Lüfte“. Er und sein Flugzeug wurden schlagartig berühmt, auch in Modellbauerkreisen: Seinen Eindecker, die Taube und die Bleriot XI, gab es bald auch als Baukästen.

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Drei beliebte Flugzeugmuster wurden Anfang der 1920er Jahre als maß tabsgetreue Modelle besonders gern nachgebaut: Weltbekannt war die bestechend elegante „Taube“, die es bald schon als Baukasten gab.

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Die aufsehenerregenden Erfolge der Bleriot XI schlugen sich auch im Flugzeugmodellbau nieder: Das Modell mit den klaren und zweckmäßigen Dimensionen fand zahlreiche Freunde.

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Hans Grade und sein Flugzeug wurden schlagartig berühmt, auch in Modellbauerkreisen.

Zum Teil 2!

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Dann dürfte es aber doch nicht so schwer sein die Zeile zu entfernen oder in "Teil 2 folgt" zu ändern.
Wir sind keine Hellseher.

Heinz
 
Gebt mir die Rechte, und ich lösche den vermeintlichen Link.
Und dann bin ich Redakteur, das reimt sich auf teuer, und ich kann kostenlos auf die Spielwarenmesse, gelle?
 
Das mit dem Mitdenken verstehe ich nicht. Wenn da steht "Zum Teil 2" und es kommt nichts was ist da mitzudenken? Nicht jeder bezieht die einschlägigen Modellbau Zeitschriften.
 
Hallo, ich würde gerne etwas dazu schreiben.
Seit beginn der mannstragenden Fliegerei, gab es auch flughistorische Veröffentlichungen der neusten Erfindungen und Entwicklungen. Wie sich ja die meisten denken können, waren wir hier in Deutschland eines der akribischsten Länder in Sachen Dokumentation.
Deshalb wurde auch schon sehr früh begonnen, alles sehr genau und korrekt aufzuschreiben und auch zu veröffentlichen.
So ist in den ersten 40 Jahren seit den Gebrüder Wright die flugtechnischen Berichte wie Motorwagen, ZFM oder Flugsport veröffentlicht worden. In diesen Dokumenten wurden schon ab 1909 am Ende jeder Ausgabe immer wieder ein Bauplan für aktuelle Modellflugzuge veröffentlicht und ich habe beim durchstöber dieser ganzen Dokumente schn bestimmt mehr als 200 solcher Modellbauzeichnungen und deren Konstrukteure gesehen. Leider fehlt mir die Zeit um genau nach diesem Modell zu suchen, aber du würdest es zu 100% dort finden. Komplett sind das aber bestimmt mehr als 20.000 Seiten für nur den Zeitraum 1908/1909 bis 1918.

Gruß Matthias
 
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