es wird noch lustig
Staatsrechtler warnen vor Verfassungsklage
Von Lars Langenau
Die Nachwahl in Dresden sorgt für Riesendurcheinander. Völlig unklar ist gegenwärtig, wann welches Ergebnis nach den Bundestagswahlen am 18. September verkündet wird. Staatsrechtler warnen vor verfassungsrechtlichen Fallstricken. Die Linkspartei will gegen die Nachwahl juristisch vorgehen.
Dresden: Kartons mit den Stimmzetteln für den Wahlkreis 160 werden aussortiert
Hamburg - Durch den Tod der NPD-Direktkandidatin Kerstin Lorenz werden 219.000 Menschen in Dresden bereits vor ihrer Stimmabgabe erfahren, ob das Ergebnis ihres Wahlkreises entscheidend für den Ausgang der Bundestagswahl ist oder nicht. "Stellen Sie sich einmal vor, die Wahl geht ganz knapp aus, würden Sie dann nicht strategisch wählen?", fragt der Berliner Staatsrechtler Christian Pestalozza.
Er hält die angekündigte Entscheidung von Bundeswahlleiter Johann Hahlen, trotz des Todes der NPD-Kandidatin das vorläufige amtliche Endergebnis der Bundestagswahl noch in der Nacht des 18. Septembers veröffentlichen zu wollen, für "keck". "Dann wird der Bundeswahlleiter Schwierigkeiten bekommen", prophezeit der Geschäftsführende Direktor des Instituts für Öffentliches Recht der FU Berlin im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Irgendjemand wird sich bestimmt finden, der dagegen klagen wird", fügt Pestalozza hinzu. "Ich habe mit dieser Entscheidung große Bedenken. Schließlich könnte der Ausgang der Bundestagswahl dadurch beeinflusst werden", sagt er.
Nicht ohne Grund dürfe es im direkten Vorfeld der Abstimmung keine Beeinflussung des Wählers mehr geben. Auch die rund 6,1 Prozent der Wahlberechtigten in Sachsen müssten eine freie und unbefangene Wahlentscheidung treffen können. "Auch wenn es verständlich ist, dass wir schnell ein Ergebnis haben wollen", empfiehlt Pestalozza deshalb, erst die Nachwahl in Dresden abzuwarten, bevor das Endergebnis der Bundestagswahl veröffentlicht wird. Nur so stehe der Bundeswahlleiter auf juristisch sicherem Boden.
Ulrich Battis, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, sagte der "Mitteldeutschen Zeitung": "Natürlich ist das eine Wahlbeeinflussung; da wird in Dresden dann mancher anders wählen. Doch das nehmen wir hin. Denn so was kommt immer wieder mal vor." Auch der Düsseldorfer Parteienrechtler Professor Martin Morlok sagte dem Blatt: "Die Veröffentlichung der Resultate kann die Wähler in Dresden beeinflussen. Aber das muss man in Kauf nehmen." Wahlen seien ein Massenereignis, bei denen man nicht überall ganz gleiche Bedingungen garantieren könne.
Josef Isensee, Professor für öffentliches Recht an der Bonner Universität, bezeichnete die Situation im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE jedoch als "äußerst prekär". "Es ist ein Dilemma. Denn ist die Wahlgleichheit dann wirklich noch gewährleistet?", fragte er. Auf der anderen Seite sei "es praktisch undurchführbar, dass die Zusammensetzung des neuen Bundestages über Wochen geheim gehalten werden kann". So könne es nun in Dresden - bei einem knappen Ergebnis im gesamten Land - zu dem "heiklen Zustand" kommen, dass es hier zu einem "lokalen Zentralwahlkampf" kommen könnte.
Schon will die Linkspartei den Wahlgang in Dresden am 18. September notfalls mit juristischen Mitteln erzwingen. Entsprechende rechtliche Schritte lasse er gegenwärtig prüfen, sagte Wahlkampfchef Bodo Ramelow der "Thüringer Allgemeinen". Der Wahlkreis sei für seine Partei von strategischer Bedeutung, weil dort die sächsische Spitzenkandidatin Katja Kipping Aussichten auf ein Direktmandat habe.
"Eine äußerst schwierige Frage"
Bundeswahlleiter Hahlen: "Eine äußerst schwierige Frage"
Tatsächlich prüft der Bundeswahlleiter noch, wie er in der Wahlnacht überhaupt das Ergebnis verkünden kann. Dass mehr als 200.000 Dresdner in Kenntnis des Wahlergebnisses wählen könnten, sei "eine äußerst schwierige Frage", sagte der Leiter des Büros des Bundeswahlleiters, Heinz-Christoph Herbertz, der "Sächsischen Zeitung". "Die Alternative wäre aber, in den anderen 298 Wahlkreisen keinerlei Ergebnis bekannt zu geben."
Die Bundeswahlordnung besage, dass durch die Wahlleiter ein vorläufiges Ergebnis festzustellen und mündlich oder in geeigneter Form bekannt zu geben sei. In welcher Form das vorläufige Ergebnis für den Bund veröffentlicht werde, "prüfen wir noch", sagte Herbertz. Darüber müsse man "noch mal in Ruhe nachdenken".
Der Bundeswahlleiter stehe vor dem Problem, "dass er ein vorläufiges Ergebnis für das Bundesgebiet bekannt geben muss, dass er aber von einem Wahlkreis kein Ergebnis hat". Die Bekanntgabe eines vorläufigen Ergebnisses ohne den Dresdner Wahlkreis 160 sei "eine Option", sagte Herbertz.
Vergleichbare Fälle in den sechziger Jahren
Ein wahrlich schwierige Frage. Schließlich lieferten sich 2002 in diesem Wahlkreis 160 SPD und CDU ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Das Direktmandat in Dresden I eroberte die CDU-Politikerin Christa Barbara Johanna Reichard mit 33,8 Prozent der Erststimmen, ihre Konkurrentin von der SPD, Eva Marlies Volkmer, erhielt 31,3 Prozent. Damit durfte die sächsische CDU eine Abgeordnete mehr in den Bundestag schicken, als ihr nach dem landesweiten Zweitstimmenergebnis zustand. Dieses Überhangmandat kam zu Stande, weil die CDU sich in Sachsen durch Zweitstimmen nur zwölf Sitze sicherte, aber 13 Wahlkreise gewann. Stärkste Partei im Wahlkreis wurde jedoch die SPD mit 32,9 Prozent der Zweitstimmen. Die CDU landete mit 30,5 Prozent an zweiter Stelle. Die PDS folgte mit 17,7 Prozent, die Grünen mit 7,9 und die FDP mit 7,0 Prozent.
Pestalozza äußerte die Vermutung, dass sich der Bundeswahlleiter mit seiner heutigen Entscheidung einfach nur an ähnlichen Fällen aus den sechziger Jahren orientiert hat. So musste 1961 im Wahlkreis 151 im rheinland-pfälzischen Cochem eine Nachwahl angesetzt werden, weil der Direktkandidat der SPD kurz vor dem eigentlichen Wahltag, dem 17. September, verstorben war. Zwei Wochen später, am 1. Oktober, setzte sich der CDU-Kandidat Paul Gibbert gegen seine Kontrahenten durch und gewann das Direktmandat.
1965 standen erst am 3. Oktober, zwei Wochen nach der Bundestagswahl am 19. September, die beiden letzten Direktkandidaten fest: Im Obertaunuskreis (Wahlkreis 135) wurde der CDU-Kandidat Walther Leisler Kiep direkt gewählt, im Wahlkreis Schweinfurt (236) der CSU-Bewerber Max Schulze-Vorberg.
Die Nachwahlen in diesen beiden Kreisen waren notwendig geworden, weil im Wahlkreis Schweinfurt der Kandidat der Deutschen Friedensunion kurz vor der Wahl verstorben war. Im Obertaunuskreis hatte der Bewerber der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher vor dem Wahltermin Selbstmord verübt.