Brave new Arbeitswelt

JeBe

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Fiktion...

Brave new Arbeitswelt

Berlin 2010. Eine laue Frühlingsnacht. Frisch verliebt sitze ich mit meiner neuen Flamme Pat auf einer Bank mit Blick auf den Tegeler See, dort, wo tagsüber die Ausflugsboote in See stechen. Eigentlich eine idyllische Kulisse, wie geschaffen für eine romantische Liebesnacht. Doch Pat wirkt seltsam unruhig, mit ihren Gedanken woanders.
"Was hast du?", frage ich sie irgendwann geradeheraus.
"Ach, nichts ... nichts", murmelt sie, doch es klingt nicht überzeugend.
Das scheint sie selber einzusehen. Schließlich beißt sie sich auf die Lippen und sagt: "Du, Leo, ich muss dir was gestehen!"
Wenn etwas mit solchen Worten beginnt, kann nichts Gutes dabei herauskommen. Ich hatte ja schon von Anfang an das Gefühl, dass Pat immer etwas geheimnisvoll tat. Nun schienen sich meine schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten. "Du hast einen anderen!", sagte ich vorwurfsvoll.
Sie blickte mich überrascht an, fast erheitert, doch genauso schnell erlosch das Lächeln in ihren Mundwinkeln wieder.
"Nein, nein, das ist es nicht!", versicherte sie. Sie holte tief Luft. "Es ist vielmehr ... ich bin arbeitslos!"

Nun war es raus! Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Sie griff nach meiner Hand und sah mir schuldbewusst in die Augen.
"Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen müssen. Aber ich hatte einfach Angst. Kannst du das verstehen?"
Ich nickte geistesabwesend. Ihre Heimlichtuerei konnte uns in Teufels Küche bringen. Seit der Verabschiedung der neuen Arbeitsmarktgesetze Hartz XXIIII vor zwei Monaten war es Arbeitslosen nur noch in Ausnahmefällen gestattet, nach Sonnenuntergang die Wohnung zu verlassen. Zuwiderhandlungen sollten unter schwere Strafe gestellt werden; die genauen Details wurden in den entsprechenden Aus-schüssen wieder einmal nachgebessert. Gerüchte besagten allerdings, sogar die sofortige Inhaftierung sei dann nicht mehr ausgeschlossen. Und auch die Begleiter von Arbeitslosen würden sich dabei straf-bar machen.
"Aber das ist noch nicht das Schlimmste", hauchte sie in meine Schrecksekunde hinein.
"Nicht?", krächzte ich heiser. Was konnte es jetzt noch Schlimmeres geben?
"Nein! Ich bin außerdem noch... unflexibel!"
"Oh, mein Gott!", stöhnte ich, ja schrie es fast in die Nacht hinein. "Willst du damit etwa sagen...?"
Sie nickte, bevor ich den Gedanken zu Ende geführt hatte.
"Ich habe mein ganzes Leben immer nur in Berlin verbracht. Ich weiß auch nicht warum, aber ich hänge halt an dieser Stadt." Unflexibel! Das war tatsächlich noch eine Steigerung. Unflexibel durfte man schon seit den allerersten Hartz-Gesetzen nicht mehr sein. Wer es dennoch war, riskierte die völlige gesellschaftliche Ächtung.
Nach Pats Enthüllungen legte sich ein langes Schweigen über unseren Ort. Nur der See sang gleichmäßig sein Lied.
"OK!", sagte ich beruhigend, in erster Linie zu mir selber. "Wir reden zu Hause darüber, einverstanden? Aber nun lass uns besser von hier verschwinden, bevor wir noch in eine Kontrolle geraten."
Sie protestierte nicht, wirkte irgendwie sogar erleichtert. "Du bist mir doch nicht böse, oder?"
Ich blickte in ihre rehbraunen Augen. Verdammt, sie hätte es sogar geschafft, mir den Weltuntergang als kleinen Ausrutscher zu verkaufen.
"Nein, ich bin dir nicht böse. Trotzdem sollten wir jetzt den Abflug machen, ja?"
Leider waren wir kaum von der Bank aufgestanden, als wir geradewegs einem Kontrolleur in die Arme liefen, einem Typen im mittleren Alter mit Lederjacke und Schnauzer.
"'N Abend", meinte der. "Hübsches Plätzchen haben Sie sich hier ausgesucht. Will auch gar nich' lange stören. Zeigen Sie mir einfach kurz ihre Chipkarte und schon bin ich wieder weg."
"Natürlich!", murmelte ich und kramte in meiner Jackentasche herum. Schließlich beförderte ich die klei-ne Karte, in der alle arbeitsmarktrelevanten Daten von mir gespeichert waren, zu Tage und reichte sie ihm. Der Mann steckte sie in sein Lesegerät und schien zufrieden. Nach einem kurzen Blick gab er sie mir wieder zurück.
"Alles in Ordnung!", sagte er. "Und die junge Dame... ?"
Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Auf ihrer Chipkarte stand alles geschrieben. Alles würde herauskommen - dass sie arbeitslos war und zudem noch unflexibel. Während ich fieberhaft nach einem Ausweg suchte, hatte Pat bereits das Heft in die Hand genommen.
"Ich habe meine Chipkarte leider nicht dabei", behauptete sie und klimperte mit ihren Rehaugen.
"Hmmm, das ist aber nicht so gut, junge Frau", meinte der Kontrolleur und kratzte sich am Bart. "Sie wissen ja, dass Sie eigentlich dazu verpflichtet sind, die immer bei sich zu tragen."
"Ja, ich weiß. Normalerweise habe ich die auch immer dabei, aber heute...", sie hakte sich bei mir ein und warf mir einen verliebten Blick zu, "...habe ich die einfach irgendwie vergessen."
"Hmmm...", wiederholte der Schnauzer unschlüssig. "In Berlin scheint man ja generell damit ein wenig lasch umzugehen. Sie sind jetzt bereits die Dritte heute Abend."
"Sie kommen nicht von hier?", griff ich das Stichwort dankbar auf, um ihn auf ein anderes Thema zu bringen.
Er sah mich an, als hätte ich etwas Unanständiges gesagt.
"Natürlich nicht! Bin ja schließlich nicht unflexibel! Oder sind Sie etwa von hier?"
"Nein, ich komme aus Minden! Bin seit zwei Monaten in Berlin."
"So lange schon?", staunte der Schnauzer. "Ich bin erst vor vierzehn Tagen hier angekommen. Seit Hartz XVII ist man ja ständig auf Achse. Vorher war ich in Celle. Und davor in Rüdesheim, Aschaffen-burg, Speyer, Bochum, Halle, Heilbronn, Nördlingen, Regensburg, Passau, Aalen, Emden, Geesthacht, Bremen, Bad Kissingen... "
"Ach?", unterbrach ich ihn. "Sie waren auch in Bad Kissingen?"
Er blinzelte verdutzt. "Ja, im Sommer vor zwei ... nein, warten Sie ... drei Jahren. Habe dort Kontroll-dienste für die Stadtverwaltung gemacht. Na ja, Sie wissen schon: aufpassen, dass niemand seine Kau-gummis irgendwo dranklebt, seine Hundescheiße fein mitnimmt, nirgendwo gegen Hauswände gepinkelt wird... das ganze Programm halt. Hab' ich immerhin zwei volle Monate gemacht! Und Sie?"
"Ich? Ich war letztes Jahr stellvertretender Facility Manager im städtischen Wellnessbad, von Mai bis September."
"Fünf Monate? Eine ganze Saison lang?" Er blickte mich an, als hätte ich in Lotto gewonnen. "Mann, dass ich zuletzt so lange am selben Ort beschäftigt war, ist mindestens schon fünf Jahre her. Tja, die Zeiten haben sich geändert! Sie haben echt Schwein, Mann." Er unterbrach sich. "Haben Sie 'ne Zigarette?" Ich reichte ihm eine rüber, er zündete sie sich an und starrte aufs Wasser hinaus. Ich begann schon unruhig zu werden, da drehte er sich wieder zu uns und lächelte.
"Ja, ja, die guten alten Zeiten", sagte er und blies den Rauch kunstvoll in die Luft. "In diesem Sinne will ich mal nicht so sein und schnell vergessen, dass ich Sie hier ohne Chipkarte angetroffen habe."
Wir lächelten dankbar. Bad Kissingen! Ab heute wussten wir, was wir dieser kleinen Stadt zu verdanken hatten!
In der Ferne wurde eine weitere Gestalt im Halbdunkel sichtbar. "Hey, Chris, alles klar bei dir da drü-ben?" "Alles klar hier!" Unser Schnauzer hob zur Bestätigung einen Arm. "Komme gleich rüber!"
"Das ist mein Kollege", sagte er zu uns gewandt. "Von dem solltet ihr euch besser nicht erwischen las-sen, der nimmt seinen Job nämlich ein bisschen genauer als ich. Am Besten geht ihr ohne Umwege nach Hause, Leute!"
Wir bedankten uns noch einmal und sahen ihm nach, wie er mit seinem Kollegen im Dunkel verschwand. Danach setzten auch wir uns in Bewegung, vorsichtshalber in die andere Richtung. Kurz bevor wir den See endgültig hinter uns ließen, blieben wir noch einmal stehen.
"Tut mir echt leid, dass ich uns so in Schwierigkeiten gebracht habe", sagte Pat und musterte mich verlegen.
"Schon in Ordnung!" versicherte ich ihr und legte einen Arm um ihre Schulter. "Ich liebe dich nun mal... obwohl du arbeitslos und unflexibel bist."
"So etwas Schönes hat noch nie jemand zu mir gesagt", rief sie freudestrahlend und warf sich mir überglücklich an den Hals. Ich nickte nachdenklich. Vor zehn Jahren hätte ich für so ein Kompliment allenfalls eine Ohrfeige bekommen. Tja, die Zeiten haben sich wirklich geändert!

Gruss jebe :confused:
 

K-L-M

Vereinsmitglied
Ist ja alles schön und gut, aber mit dem Raucher komme ich nicht klar! ;) :D
Nichtraucher
Klaus
 
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